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Stellungnahmen der GEPS in den Rundbriefen 1994 zum Buch von Arno Gruen „Der frühe Abschied – eine Deutung des Kindstodes“
Buchbesprechung:
„Der frühe Abschied – eine Deutung des Kindstodes“ von Arno Gruen, überarbeitete Taschenbuchausgabe, erschienen im dtv-Verlag 1993
Eine Besprechung der gebundenen Ausgabe dieses Buches des Psychoanalytikers, erschienen bereits 1988 im Kösel-Verlag, wurde im Rundbrief Oktober 1991 veröffentlicht. Leider hat sich unsere Hoffnung, die provozierenden Thesen würden in der Neuauflage relativiert, nicht erfüllt. Dieser Umstand hat uns bewogen, dieses Buch nochmals, aber diesmal aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten: In diesem Rundbrief sind Stellungnahmen von Prof. Dr. Gisela Molz, Sprecherin des Wissenschaftlichen Beirats, aus der Sicht des Pathologen und Dipl.-Psychologe Andreas Ott, GEPS Nordrhein-Westfalen, abgedruckt. Im nächsten Rundbrief folgen Besprechungen von Dr. Jutta Helmerichs, Sozialwissenschaftlerin, GEPS Landesverband Niedersachsen, und selbstverständlich auch von betroffenen Eltern. Alle Beiträge zusammen sollen Arno Gruen und dem dtv-Verlag zugesandt werden. Auch wollen wir uns bemühen, einen oder mehrere Beiträge in Fachzeitschriften des Buchhandels unterzubringen.
Verbales Bombardement
Prof. Dr. Gisela Molz
Institut für Rechtsmedizin Universität Zürich – Irchel
Was kann ein Pathologe dazu sagen?
Läßt man sich durch das Vorwort des Autors Arno Gruen an sein Buch heranführen, so erfährt man bereits in den ersten Sätzen Aufschlussreiches. Denn es heißt: „Dieses Buch ist ein Beitrag zu einer umfassenden Psychosomatik. Anhand des zur Verzweiflung treibenden Phänomens des Plötzlichen Kindstodes versuche ich zu zeigen, daß seelische Vorgänge und somatische Strukturen nicht voreinander getrennt werden können.“ Man erfährt aber auch, „daß dieses Buch nicht in erster Linie für Betroffene geschrieben wurde. Es ist vielmehr ein Beitrag zum ganzheitlichen wissenschaftlichen Denken“ (Seite 10). Damit sind die erhabenen Absichten keineswegs erschöpft, denn der Autor vertraut dem Vorwort auch an: „Die gegenwärtige Studie zielt auf eine Wissenschaftlichkeit mit einem erweiterten Bewußtsein, eine, in der Erkenntnis und Verantwortung gleichbedeutend sind“ (S. 14). Ob dieses verbale Bombardement uns bei unseren Untersuchungen plötzlich verstorbener Säuglinge weiterhilft, wage ich zu bezweifeln. Etwas Gutes hat die salbungsvolle Einleitung dennoch – sie mahnte mich, die Studie gründlich zu lesen und mit dem Wust der Spekulationen auseinanderzusetzen. Arno Gruen sagt in seiner Zusammenfassung, daß er eine „biosoziale Theorie des plötzlichen Kindstodes vorlegt, die von einem Zusammenwirken neurophysiologischer, psychischer und sozialer Faktoren ausgeht“ (S. 134). Das Wort Theorie macht stutzig, denn Voraussetzung für eine Theorie ist die Darstellung gesicherter, wissenschaftlicher Erkenntnisse. Diese Bedingung kann die Studie von Arno Gruen nicht erfüllen, denn bei einem Kollektiv von nur 15 plötzlich gestorbenen Säuglingen ist der Fehler der kleinen Zahl unweigerlich gegeben. Wer mit Zahlen arbeitet, sollte den Rat des deutschen Physikers J.F.BENZENBERG (1777–1846) beachten, daß „Zahlen entscheiden“. Die Tatsache, daß Arno Gruen seinem Kollektiv keine Vergleichsgruppe gegenüberstellt, ist ein arges und für eine wissenschaftliche Arbeit unzumutbares Versäumnis.
Vergleichsgruppe wären gleichaltrige Säuglinge, aus einem gleich sozialen Umfeld stammend, die jedoch unter einer bekannten, klinischen Erkrankung gestorben sind. Zum Hinweis Arno Gruen, „daß wir dennoch über eine gewisse Kontrolle verfügen, nämlich unsere klinische Erfahrung in der Psychotherapie (S. 18), darf man wohl fragen, wie „seelische Vorgänge und somatische Strukturen“ durch Erfahrungen aus der Psychotherapie geprüft werden können.
Medizinische Aspekte beim Darlegen medizinischer Aspekte sind Arno Gruen Fehler unterlaufen, die man berichtigen muß. Das betrifft die Angabe, „daß die Häufigkeit des Plötzlichen Kindstodes von Jahr zu Jahr zunimmt“ (S. 29). Wenn sich diese Aussage auf die absolute Häufigkeit des unerwarteten Säuglingstodes (UST) bezieht, ist sie falsch. Die absolute Häufigkeit errechnet die Sterbefälle an UST bezogen auf 1000 Lebendgeborenen. Diese Rate lag bis vor kurzem weltweit zwischen 1–3 Säuglingen. In jüngster Zeit wird jedoch eine fallende Tendenz beobachtet: Kanada meldete zwischen 1988 und 1990 einen Rückgang von 1.08 auf 0.82 / 1000 Lebendgeborene, und wir haben in der Stadt Zürich 1969 eine Häufigkeit von 1.1 registriert, 1992 nur noch eine solche von 0.8 / 1000 Lebendgeborene. Etwas anders verhält sich die relative Häufigkeit des UST. Die relative Häufigkeit errechnet den Anteil des UST in der Gesamtheit aller gestorbenen Säuglinge. Zwangsläufig nimmt die relative Häufigkeit zu, je kleiner die gesamte Sterblichkeit der Säuglinge wird.
Das sei am Beispiel Zürich gezeigt: 1969 starben von 1000 Neugeborenen 13,2 Kinder im Verlauf des ersten Lebensjahres (Sterbeziffer 13,2). Von den 20 Säuglingen, die nach der ersten Lebenswoche starben, sind 5 dem UST zum Opfer gefallen. 1992 betrug die Sterbeziffer nur noch 5,2 und von den 11 Säuglingen waren 3 Opfer des UST. Eine weitere Quelle für Arno Gruens Irrtum könnte auch aus Folgendem stammen: der Begriff des „Plötzlichen Kindstodes“ hat die Weltgesundheitsorganisation 1979 unter dem Code 795 in die Internationale Klassifikation der Erkrankungen eingereiht. Sofort kam es zu einem rapiden Anstieg an registrierten „Plötzlichen Kindstodes-Fällen“ und zwar weltweit, so daß die Empfehlung notwendig wurde, mit dem Code 795 (heute 798) nicht so großzügig umzugehen. Die von Arno Gruen gemachte Angabe, daß „überdurchschnittliches Rauchen der Mütter und Alkoholismus sich durchgängig bei PKT-Fällen finden“ (PKT = Plötzliche Kinds-Todesfälle) bedarf gleichfalls einer Richtigstellung (Seite 34). Wir haben unter 340 unerwartet gestorbenen Säuglingen 3 Mütter mit Alkoholkonsum und weitere 12 mit Drogenbelastung. Das ergibt einen Anteil von 4 Prozent. Nikotingenuß geben 46 Prozent an, davon 8 Prozent einen beachtlichen mit täglich 20 Zigaretten und mehr. Aus der Beobachtung, daß an Samstagen, Wochenenden und Feiertagen gehäuft plötzlicher Säuglingstod auftritt, folgert Arno Gruen, daß die gesellschaftliche Sicht immer wieder darauf hindeutet, „daß ein Schlüssel zu diesem Tod in den Beziehungen zwischen Mütter und Väter liegt“ (S. 139). Gegen diesen Aspekt bringe ich das Ergebnis unserer Untersuchung: von 340 unerwartet gestorbenen Säuglingen starben je 13 Prozent an einem Montag oder Donnerstag, 14 Prozent an einem Dienstag, je 16 Prozent an einem Mittwoch, Freitag oder Sonntag und 12 Prozent an einem Samstag. In unserer Vergleichsgruppe von 280 nicht plötzlich gestorbenen Säuglingen ergab die Reihenfolge: 12 Prozent an einem Montag, je 14 Prozent an einem Dienstag, Donnerstag oder Freitag, 16 Prozent an einem Mittwoch, 13 Prozent an einem Sonntag und 17 Prozent an einem Samstag. Vergleicht man die Werte innerhalb der einzelnen Untersuchungsreihen und auch miteinander, so finden sich keine entscheidenden Unterschiede.
Ambivalente Gefühle der Mutter und unbewußte Feindseligkeit Nach Arno Gruen kann „die unbewußte Feindseligkeit der Mutter zum auslösenden Faktor für den Plötzlichen Kindstod werden, wenn bestimmte Bedingungen zusammentreffen“ (S. 103). Als Beweis für diese These führt Arno Gruen an: „in jedem PKT-Fall, der hier untersucht wurde, hatte die Mutter gegenüber ihren Kindern ambivalente Gefühle, gegenüber dem PKT-Säugling waren sie aber besonders stark ausgeprägt“ (S. 123). Prüft man die Kinderzahl der so charakterisierten 15 Mütter, dann hatten sie 20 Vorgeborene und 7 Nachfolgekinder. Für Arno Gruen ist es „unbezweifelbar, daß die meisten Kinder die unbewußte Ablehnung ihrer Mütter überleben“ (S. 103). Diese an Ungeheuerlichkeit grenzende Behauptung kann man nicht hinnehmen. Wir haben von 183 Müttern genaue Angaben über die Zahl ihrer Nachfolgekinder. Wir haben die Mütter gruppiert und so aufgeschlüsselt, ob das gestorbene Kind ihr Erstgeborenes, Zweitgeborenes, Dritt- oder Viertgeborenes war (Tabelle 1). Eine Gesamtzahl von 290 Nachfolgekinder spricht für diese Mütter und ihre bejahende Einstellung zum Kind. 3 Mütter haben, leider, ein zweites Mal den Schock eines plötzlichen Verlustes erlebt. Unter 290 Nachgeborenen drei Wiederholungsereignissen zu begegnen, entspricht der weltweiten Beobachtung, daß das Risiko zum UST für Nachgeborene 1 auf 100 Nachgeborene beträgt. Auffällig bei einem Wiederholungsereignis ist, daß das zweite, durch den UST gestorbene Kind jünger ist als das erste Kind. Das trifft auch für unsere 3 Kinder zu – und sogar auch für das Doppelereignis im Kollektiv von Arno Gruen. Wir haben für diese Beobachtungen keine Erklärung, hüten uns jedoch vor Spekulationen. Denn gegen das Spekulieren hat der große Arzt PARACELSUS gesagt, daß „das erst und höchst Gebot der Arznei ist „Sapientia“ – und das ist Sapientia, daß einer Etwas wisse und nicht nur wähne.“
Fazit: Nicht empfehlenswert
Dipl.-Psychologe Andreas Ott
GEPS Nordrhein-Westfalen
Psychologe in der Westfälischen Kindstodstudie der Universitätsklinik Münster
Der Versuch, psychologische Forschungsresultate in Form von Elternratgeber einer breiten Öffentlichkeit nahezubringen, ist sicherlich eine schwierige Gratwanderung zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch einerseits und dem Problem, verständlich und handhabbar zu sein.
Die Motivation zu einem solchen Versuch dürfte häufig im Bedürfnis des jeweiligen Forschers liegen, seine Befunde aus dem akademischen Elfenbeinturm in das Alltagswissen der Betroffenen zu verlagern. Wo dieses Motiv vorherrscht, sind die entstehenden Bücher oftmals eine große Hilfe, sie geben Hintergrundinformationen und bahnen unter Umständen den Weg zu weiteren Schritten (z. B. Aktives Ansprechen von Problemen im Bekanntenkreis, Eintritt in eine Selbsthilfeorganisation oder Aufnahme therapeutischer Gespräche).
Nach der Durchsicht des im dtv-Verlag erschienen Tagebuchs von Arno Gruen „Der frühe Abschied“ kann ich als Diplom Psychologe mit mehrjähriger Lehrerfahrung im Bereich der Kinderpsychologie (hier gehört natürlich auch das Thema Mutter-Kind Interaktion und ihre Konsequenzen dazu) und großer Erfahrung mit den Problemen der betroffenen Eltern nur feststellen, daß ich diese Motivation im vorliegenden Werk in keiner Weise erspüren kann.
Das Buch genügt keinesfalls wissenschaftlichen Ansprüchen (eine entsprechende Diplomarbeit würde aufgrund der Vielzahl methodischer Unzulänglichkeiten grundsätzlich abgelehnt werden). Die Methode retrospektiver Befragungen erscheint ebenso wie das Fehlen geeigneter Kontrollgruppen und die willkürliche Interpretation der elterlichen Aussagen ungenügend. Eine Objektivität, die Minimalforderung innerhalb jeder Wissenschaft, ist in der Analyse der Protokolle in keiner Weise realisiert. Wissenschaftlich ist die Arbeit von Gruen als unfruchtbar anzusehen. Die Stimmigkeit seiner Kernaussage (Der Plötzliche Säuglingstod korreliert hoch mit bestimmten Elternvariablen) ist praktisch nicht überprüfbar.
Das alles begründet jedoch noch nicht, warum ich das vorliegende Buch nicht nur als sinnlos, sondern sogar als in hohem Maße schädlich ansehe: Die ohnehin meist bestehenden Schuldgefühle der betroffenen Eltern werden bestätigt. Arno Gruen stellt die betroffene Elternschaft, speziell die Mütter, als vom Rest der Bevölkerung verschieden dar. Er nährt das Vorurteil, daß so etwas Schreckliches nur passieren kann, wenn auch irgendwo eine Schuld zu finden ist, so etwas fällt nicht aus heiterem Himmel, mir könnte so etwas nie passieren. Er verstärkt durch sein Buch die destruktiven Gedanken, unter denen die Eltern sowieso schon schwer leiden und die sie davon abhalten, mit der wirklichen Trauer über den Verlust ihres Kindes zu beginnen. Ich bin überzeugt, daß Psychologen einen wesentlichen Beitrag zur Trauerbewältigung leisten können und achte diese schwere und fruchtbare Arbeit sehr.
Arno Gruens Ziel „einen menschlichen Beitrag zur Lösung des furchtbaren Rätsels vom Plötzlichen Kindstod zu leisten“ ging allerdings gründlich daneben.
Was er stattdessen produzierte, ist eine giftige Mischung aus Halbwahrheiten, Fehlern, in falschem Zusammenhang zitierten, teilweise völlig falsch verstandenen, oftmals deutlich selbstdarstellerischen und zu guter Letzt schon von der wissenschaftlichen Konzeption her nicht überprüfbaren Einzelbestandteilen.
Mein Fazit: nicht empfehlenswert.
Arno Gruen aber wünsche ich bei der Auswahl, der Recherche und den sprachlichen Formulierungen für seine folgenden Werke eine glücklichere Hand. Ich bin überzeugt, daß ihm das zumindest teilweise gelingen wird.
Eine wissenschaftliche Verbrämung von Vorurteilen
Der Jutta Helmerichs, Sozialwissenschaftlerin
GEPS Landesverband Niedersachsen
Plötzlicher Kindstod-Elternberatungsprojekt Niedersachsen
Institut für Rechtsmedizin der Universität Göttingen
Der Psychoanalytiker Arno Gruen hat Anfang der achtziger Jahre mit fünfzehn Ehepaaren, die vom Plötzlichen Kindstod betroffen sind, und mit fünf Paaren, deren Kinder nach seinen Angaben beinahe gestorben wären, ein Gespräch geführt. Dabei hat er sich, gestützt auf die spezifische Denkweise der Freud’schen Tiefenpsychologie, ein Bild von seinen GesprächspartnerInnen gemacht und daraus eine generelle Erklärung des Plötzlichen Kindstodes abgeleitet. Seine Kernaussage lautet, daß vom Plötzlichen Kindstod betroffene Mütter gegenüber ihren Kindern eine unbewußte Feindseligkeit hegten. Diese unbewußte Feindseligkeit führte nach seiner Ansicht zum Tod der Kinder.
Arno Gruen entschied sich, diese Einschätzung öffentlich zu machen, fand dafür offensichtlich auch eine Verlegerin oder einen Verleger und legte 1988 das Buch „Der frühe Abschied“ vor. Hierin findet man seine o.g. Kernaussage auf weit über 100 Seiten ausgebreitet, weil angereichert mit seinen persönlichen Anschauungen z. B. zur Aufgabe und Rolle der Frau und Mutter, zum intrapsychischen Verhältnis der Geschlechter zueinander und zu emotionalen Schäden, die das Leben in den modernen westlichen Industrienationen hervorruft. Das Ganze wurde von Arno Gruen mit einem wissenschaftlichen „touch“ versehen.
Arno Gruens Veröffentlichung „Der frühe Abschied“ ist keine wissenschaftliche Studie, sondern eine sehr phantasievolle Zusammenstellung verschiedener Sachinformationen (teilweise falsche Informationen, z. B.: rasche Zunahme der SIDS-Todesfälle in den Industriegesellschaften, Kösel S. 18) und sich widersprechender Behauptungen und Aussagen. Wissenschaft ist ein System von exakt definierten Regeln und Zielen, und wenngleich es unter WissenschaftlerInnen verschiedener Fachrichtungen – vor allem der Geistes- und Naturwissenschaften – auch Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich dieser Regeln und Ziele gibt, so läßt sich dennoch ein Minimalkonsens benennen.
Arno Gruens Veröffentlichung genügt den Mindestanforderungen, die an eine wissenschaftliche Untersuchung zu stellen sind, nicht. Sein sehr kleines und mehrfach selektiertes Kollektiv ist nicht repräsentativ, der untersuchten Gruppe wird keine adäquate Kontrollgruppe gegenübergestellt, er argumentiert ahistorisch, und es werden Beobachtungen aus Tierversuchen (mit Ratten, Fliegen, Katzen) unreflektiert herangezogen, um menschliches Verhalten zu interpretieren.
Eine weitere Regelverletzung liegt darin, daß Arno Gruen bestimmte Forschungsergebnisse anderer – im übrigen zumeist renommierter PsychoanalytikerInnen – außer acht läßt. Schaut man sich genauer an, welche thematisch angrenzenden Forschungsarbeiten aus den Sozialwissenschaften ausgeklammert bleiben, so fällt auf, daß es sich ausschließlich um Arbeiten handelt, die der „Beweisführung“ seiner Thesen entgegengestanden hätten. Hätte Arno Gruen zum Beispiel R. Spitz’, D. Winnicotts, A. Millers, M. Mahlers, E. Eriksons, M. Kleins oder M. Gambaroffs Forschungsergebnisse über die Mutter-Kind-Interaktion und deren mögliche Störungen einbezogen, oder hätte er M. E. Seligmanns und J. Bowlbys Ergebnisse aus der Depressionsforschung berücksichtigt, hätte er seine Behauptung, Säuglinge sterben aus Hilflosigkeit, nicht aufrechterhalten können.
Darüber hinaus: Hätte Arno Gruen sich vor seinen Gesprächen mit Betroffenen mit der Trauerforschung (dabei insbesondere mit den Arbeiten von E. Lindemann und V. Kast) beschäftigt, hätten ihm zumindest Zweifel an seinem „Beweismaterial“ (dtv S. 98ff) kommen müssen. Ihm wäre dann nämlich klar gewesen, daß die Erinnerung an Todesträume und ‑phantasien bei vielen Menschen ein normaler Bestandteil der Trauerverarbeitung ist.
Arno Gruens Gedanken, Einschätzungen und Interpretationen zum Plötzlichen Kindstod sind also wissenschaftlich nicht bewiesen. Dieser Einwand der Unwissenschaftlichkeit wird ihn – so ist anzunehmen – kaum stören. Es scheint, als erwarte er diese Kritik sogar, vielleicht ist sie ihm seit der Ersterscheinung seines Buches auch des öfteren entgegengehalten worden.
Im 1992 formulierten Vorwort der Taschenbuchausgabe kritisiert er nämlich die konventionelle Wissenschaft und gibt sich dabei nicht nur als „Feminist“ (!) zu erkennen, sondern auch als Anhänger einer anscheinend ganz neuen Art des wissenschaftlichen Denkens, nämlich des „ganzheitlichen wissenschaftlichen Denkens“ (dtv S. 10) bzw. einer wohl ganz neuen Wissenschaftlichkeit, einer „Wissenschaftlichkeit mit erweitertem Bewußtsein“ (dtv S. 14).
Bleibt die Frage: Warum gab Arno Gruen seinem Buch einen konventionellen wissenschaftlichen Anstrich, wenn er doch die konventionelle Wissenschaft ablehnt? Warum führte er die LeserInnen nicht in seine, uns allen bisher völlig unbekannte „ganzheitliche Wissenschaft“ ein und orientierte sich dann an ihr? Zielte er vielleicht auf den Glauben vieler Menschen an eben die konventionelle Wissenschaft, in der Hoffnung dadurch ernst genommen zu werden oder Respekt zu erhalten oder sein Buch besser verkaufen zu können oder sich ins Gespräch bringen zu können, oder, oder, oder,…? Welche Intention Arno Gruen letztlich mit seiner Veröffentlichung verfolgt, bleibt im Dunkeln.
Welche Auswirkungen Arno Gruens Gedanken, Einschätzungen und Interpretationen zum Plötzlichen Kindstod auf ihn selbst hatten, erfahren die LeserInnen der Taschenbuchausgabe nicht mehr, ist aber in der gebundenen Ausgabe nachzulesen (Kösel S. 13). Arno Gruen berichtet der Öffentlichkeit, er sei aufgrund seiner erschütternden Einsichten über die Hintergründe des Plötzlichen Kindstodes, die er durch seine fünfzehn Gespräche mit betroffenen Eltern gewonnen hat, so verzweifelt gewesen, daß er Hilfe habe in Anspruch nehmen müssen.
Welche Auswirkungen seine Gedanken, Einschätzungen und Interpretationen zum Plötzlichen Kindstod auf Betroffene haben, kann er den LeserInnen der Taschenbuchausgabe auch mitteilen.
Demnach gibt es – wie er schreibt – viele Eltern, denen seine Publikation geholfen hat, mit sich selber zurechtzukommen (dtv S. 14). Es gibt aber auch Eltern – so berichtet Arno Gruen weiter – , die sich von ihm beschuldigt fühlten. Diese Eltern beschuldigt er wiederum, sich ihrer Schuld am Tod ihres Kindes und ihren Schuldgefühlen nicht zu stellen und den Verlust ihres Kindes bisher weder betrauert noch verarbeitet zu haben. Diese anmaßende Interpretation berechtigter, elterlicher Kritik an der Veröffentlichung und wissenschaftlichen Verbrämung von Vorurteilen und Anschuldigungen gegenüber vom Plötzlichen Kindstod Betroffenen finden sich in Arno Gruens kurzer Abhandlung über den Begriff der Schuld (dtv S. 14/15). In dieser Abhandlung versucht er (allerdings ohne Erfolg), den LeserInnen zu verdeutlichen, was er unter Schuld versteht. Dabei mildert Arno Gruen seine Anschuldigungen gegenüber Betroffenen – wie an anderen Stellen seines Buches auch (siehe z. B. Kösel S. 22, 24, 138ff) – ab, indem er „die Gesellschaft“ personifiziert und für alles verantwortlich macht.
Nicht nur an dieser Stelle kann man sich als LeserIn des Eindrucks nicht erwehren, daß der praktizierende Analytiker Arno Gruen bei der Einlösung seines selbstgesteckten Ziels, einen theoretischen Beitrag liefern zu wollen, überfordert war.
Arno Gruen hat sich mit seiner Veröffentlichung als Wissenschaftler und Psychoanalytiker disqualifiziert. Sein Buch ist in keiner Weise ein Beitrag zur Beantwortung der Frage nach den Ursachen des Plötzlichen Kindstodes, kein Beitrag zur Klassifikation von SIDS-Risikofaktoren und auch kein Beitrag zur SIDS-Prävention. Sein Buch gibt auch keinen Anstoß für neue Fragestellungen zur Erforschung des SIDS.
Das war Arno Gruen als bahnbrechend neue Erkenntnis vorstellt, daß nämlich in diesem Leben alles mit allem zusammenhängt, daß es eine Psychosomatik gibt und daß der Plötzliche Kindstod deshalb immer eine physische, psychische und soziale Bedingtheit hat, ist den meisten Betroffenen und Nichtbetroffenen, die sich mit dem Thema SIDS befassen, auch schon vorher klar gewesen und somit „ein alter Hut“.
Eine Zumutung – kein „menschlicher Beitrag zur Lösung des furchtbaren Rätsels“
Martina Stoiber
Landesverband Baden-Württemberg
betroffene Mutter
Nachdem ich Arno Gruens Deutung des Plötzlichen Kindstodes, gebundene Ausgabe des Kösel-Verlags, erschienen 1988, als Zumutung für betroffene Familien bewerten mußte, hatte ich gehofft, daß die überarbeitete Taschenbuchausgabe des dtv-Verlages, erschienen 1993 meinen damaligen Eindruck revidieren könne. Zumal sich Herr Gruen, nach Aussage des Verlages, „versöhnlich und bedauernd“ geäußert habe, als er Kenntnis davon erhielt, wie seine Theorien auf Betroffene gewirkt haben.
Zum Inhalt der Taschenbuchausgabe möchte ich Herrn E. Bühler, GEPS Schweiz, zitieren, der die gebundene Ausgabe im April 1989 wie folgt rezensierte: …Die Deutung des Plötzlichen Kindstodes… wird uns Eltern dieser Kinder wohl alle empfindlich treffen. Nachdem die Auslegung des schweren Leids als göttliche Strafe für verborgenes Unrecht kaum mehr zu hören ist, die Polizei ebenfalls lernt, Betroffene nicht mehr als mögliche Verbrecher zu behandeln, stochert nun ein Psychoanalytiker in unserer Wunde der Selbstvorwürfe und Schuldgefühle herum… Zwar bestreitet heute kaum mehr jemand, daß Einstellung und Verhalten der Eltern neben dem seelischen auch das körperliche Wohlbefinden des Kindes beeinflussen und daß Liebe zum Kind und Freude an seiner Lebendigkeit entscheidenden Vorraussetzungen für eine gesunde Entwicklung bedeutet. Aber immer dann, wenn es um die Schaffung eines direkten Zusammenhangs zu einem so plötzlichen Tod geht, ist Gruen auf Vermutungen, Thesen und ungewisse Deutungen angewiesen. Aufbauend auf dermaßen unsicheren Grundlagen so außergewöhnliche, ungeheure und die leidegeprüften Eltern noch mehr ins Abseits drängende Behauptungen zu veröffentlichen, zeugt von Verantwortungslosigkeit und Menschenverachtung.”
(Anm. d. Redaktion: die Buchbesprechung von Herrn Bühler wurde im Rundbrief des Landesverbandes Baden-Württemberg im Oktober 1991 veröffentlicht und kann auf Wunsch gerne zugesandt werden)
Herrn Bühlers Ausführungen gelten leider auch für die nun vorliegende Taschenbuchausgabe. Herr Gruen stochert immer noch und dies zusätzlich noch in einem Vor- und einem Nachwort.
Im Nachwort z. B. unterstellt er den Wissenschaftlern, die den Risikofaktor Bauchlage benennen, daß sie diesen als alleinige Ursache des Plötzlichen Kindstodes sähen. Davon ist mir nichts bekannt und ich frage mich, worauf er seine Behauptung stützt? „Ein solcher Fehlschuß scheint nur möglich, wenn das gängige Denken eine Gesamtsicht verschmäht.“ Stimmte seine Behauptung, müßte ich Herrn Gruen in diesem Fall sogar ausnahmsweise recht geben und möchte diese seine Wertung eigentlich für seine Theorien in Anspruch nehmen.
Wenn also Standpunkte andersdenkender Kollegen, sofern man Herrn Gruen als Wissenschaftler bezeichnen kann, derart fragwürdig behandelt werden, wie kann ich dann erwarten, daß ich als betroffene Mutter auf Verständnis und faire Auseinandersetzung mit meiner Person bei Herrn Gruen hoffen darf.
Aber als Optimist versuche ich es trotzdem und möchte dies für den Großteil der vielen Mütter in Anspruch nehmen, die ich im Verlauf von mehreren Jahren Elternarbeit betreut habe:
Ich habe unsere Tochter Franziska geliebt und ihr nach meiner, zugegebenermaßen laienhaften, Einschätzung auch nicht unbewußt den Tod gewünscht. Ich war und bin weder alkoholabhängig, drogensüchtig, unterordnungswillig, noch besonders nervös und habe alle meine Kinder gestillt. Zur Ehrenrettung meines Partners möchte ich anbringen, daß er sich meiner nicht „bemächtigt, getarnt durch fürsorgliche Güte“.
Hinzufügen möchte ich noch, daß ich auch nicht depressiv bin – obwohl man dies als Mutter, die ein Kind durch den Plötzlichen Kindstod verloren hat, nach Lektüre seines Buches werden könnte.
Und dies ist mein Hauptvorwurf an Arno Gruen.